Mittwoch, 23. Mai 2012

Textinterpretation: Wolfgang Hildesheimer – Eine größere Anschaffung



Der Maler und Schriftsteller Wolfgang Hildesheimer, ein Mann jüdischer Abstammung, beeindruckt nicht nur durch seine zahlreichen Werke und Übersetzungen deutscher Texte ins Englische, oder seine Auszeichnungen wie zum Beispiel den Bremer Literaturpreis, sondern auch durch seine 1952 verfasste Kurzgeschichte „Eine größere Anschaffung“.

Die Geschichte handelt von einem Mann und dessen Konsumverhalten. Sie ist in 4 Teile, die deutlich durch Absätze getrennt sind, eingeteilt. Die Einleitung, ganz im Stile einer Kurzgeschichte, bringt den Leser direkt ins Geschehen, in eine Szene im Dorfwirtshaus. Dort wird der Hauptperson, deren Name nicht genannt wird, von einer fremden Person eine Lokomotive zum Kauf angeboten. Schon die Adjektive in den ersten Sätzen lassen Erwartung aufkommen, der Fremde wird als interessant dargestellt. Nach scheinbar kritischer Beäugung des Angebotes nimmt der Interessent an. Der Handel ist vollzogen, als das Gefährt in der Garage unserer Hauptperson steht. Erst als ein Vetter unsere Hauptperson besucht, wird Skepsis breit. Angstvoll teilt der Vetter mit, eine Schnellzuglokomotive in der Garage gesehen zu haben, worauf der Käufer scheinbar gelassen und ruhig reagiert. Kurz darauf wird der Besitzer der Lokomotive auf  Zeitungsberichte aufmerksam, die das Offensichtliche offenbaren: die Lokomotive ist gestohlen. Doch der Käufer weiß genau, wie er zu reagieren hat. Beim nächsten Besuch im Dorfwirtshaus lässt er sich von demselben Händler nicht mehr überreden, einen Kran zu kaufen. Denn was soll mensch schon mit einem Kran?

Der Text ist in der Ich-Erzählsituation geschrieben, bei der Erzähler und Hauptfigur identisch ist. Der Erzähler ist lediglich die reifere Version der Hauptperson, also die Person, nachdem sie diese Erfahrung durchlebt hat.
Als Textgattung ist deutlich die Satire, mit allen Merkmalen der Kurzgeschichte, wie zum Beispiel dem direkten Einstieg in die Geschichte, dem offenen Schluss, der einsträngigen Handlung oder der chronologischen Erzählweise, zu erkennen.
Die Erzählzeit ist viel kürzer als die erzählte Zeit, da sich nach jedem Absatz ein Zeitsprung von einer kurzen, aber nicht genau bekannten Zeitspanne befindet. Während des Erzählungsablaufes gibt es keine Vorausdeutungen, lediglich stark abgeschwächte Ahnungen, die sich in den Adjektiven, die zum Beispiel den Händler (gedämpft-vertrauliche Stimme) beschreiben, ausdrücken.
Die Geschichte ist komplett im Ich-Erzählstil gehalten, lediglich einmal findet sich eine direkte Rede zwischen der Hauptperson und dem Vetter, die die Handlungsintention und Meinung des Vetters herausheben soll.
Wegen des Erzählstils wird die Hauptfigur nur indirekt, also durch ihre eigenen Handlungen, charakterisiert. Sie erscheint naiv, gutgläubig und verspielt. Über ihr Aussehen oder gar ihr Geschlecht wird gar nichts preisgegeben. Hingegen erscheint der Vetter, der direkt durch die Hauptperson charakterisiert wird, sehr sachlich, realistisch, fast schon pessimistisch. Der Händler wird als durchschnittlich beschrieben, mit passenden Adjektiven wird er aber als interessant dargestellt.
Die Schauplätze sind das Dorfwirtshaus, der erste und letzte Ort der Erzählung, der ein gewisses Maß an Lockerheit aufweist und das Haus mit zugehöriger Garage, das eher irrelevant ist.
Die Personen können sowohl für die heutige Zeit, als auch für die Gesellschaft um 1952 stehen. So ist der Händler der ständige Konsumdrang, die unausweichliche Werbung und Kaufaufforderung, wobei der Vetter die „normale“ Gesellschaft ist, die nichts mit übermäßigem Konsum am Hut hat und diejenigen nicht versteht, die sich der Kauflust hingeben. Die Hauptperson ist der Inbegriff irrationalen Konsumverhaltens, was sich deutlich in der Investition in die geklaute Lokomotive zeigt. Vom Autor ist besonders sie ins Extreme gezogen worden, was diese Satire ausmacht. Als wäre es das normalste der Welt wird der Kauf der Lokomotive bestätigt, sogar eine noch absurdere Geschichte wird darüber erzählt. Sie steht in keinerlei kritischer Distanz zum eigenen Handeln.

Für mich spiegelt diese Geschichte in etwas verzerrter Form das heutige Konsumverhalten wieder. Ohne viel über etwas zu wissen, wird eingekauft. Es sei sowieso so offensichtlich, man müsse nicht viel über ein Produkt wissen, es wird schon das Richtige sein. Etwas erstaunt hat mich, dass der Autor schon in der Zeit des Verfassens, also 1952, das Gefühl hatte, in einer extremen Konsumgesellschaft zu leben.

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