Der Maler und Schriftsteller Wolfgang Hildesheimer, ein Mann
jüdischer Abstammung, beeindruckt nicht nur durch seine zahlreichen Werke und
Übersetzungen deutscher Texte ins Englische, oder seine Auszeichnungen wie zum
Beispiel den Bremer Literaturpreis, sondern auch durch seine 1952 verfasste
Kurzgeschichte „Eine größere Anschaffung“.
Die Geschichte handelt von einem Mann und dessen
Konsumverhalten. Sie ist in 4 Teile, die deutlich durch Absätze getrennt sind,
eingeteilt. Die Einleitung, ganz im Stile einer Kurzgeschichte, bringt den
Leser direkt ins Geschehen, in eine Szene im Dorfwirtshaus. Dort wird der
Hauptperson, deren Name nicht genannt wird, von einer fremden Person eine
Lokomotive zum Kauf angeboten. Schon die Adjektive in den ersten Sätzen lassen
Erwartung aufkommen, der Fremde wird als interessant dargestellt. Nach
scheinbar kritischer Beäugung des Angebotes nimmt der Interessent an. Der
Handel ist vollzogen, als das Gefährt in der Garage unserer Hauptperson steht.
Erst als ein Vetter unsere Hauptperson besucht, wird Skepsis breit. Angstvoll
teilt der Vetter mit, eine Schnellzuglokomotive in der Garage gesehen zu haben,
worauf der Käufer scheinbar gelassen und ruhig reagiert. Kurz darauf wird der
Besitzer der Lokomotive auf
Zeitungsberichte aufmerksam, die das Offensichtliche offenbaren: die
Lokomotive ist gestohlen. Doch der Käufer weiß genau, wie er zu reagieren hat.
Beim nächsten Besuch im Dorfwirtshaus lässt er sich von demselben Händler nicht
mehr überreden, einen Kran zu kaufen. Denn was soll mensch schon mit einem
Kran?
Der Text ist in der Ich-Erzählsituation geschrieben, bei der
Erzähler und Hauptfigur identisch ist. Der Erzähler ist lediglich die reifere
Version der Hauptperson, also die Person, nachdem sie diese Erfahrung durchlebt
hat.
Als Textgattung ist deutlich die Satire, mit allen Merkmalen
der Kurzgeschichte, wie zum Beispiel dem direkten Einstieg in die Geschichte,
dem offenen Schluss, der einsträngigen Handlung oder der chronologischen
Erzählweise, zu erkennen.
Die Erzählzeit ist viel kürzer als die erzählte Zeit, da
sich nach jedem Absatz ein Zeitsprung von einer kurzen, aber nicht genau
bekannten Zeitspanne befindet. Während des Erzählungsablaufes gibt es keine
Vorausdeutungen, lediglich stark abgeschwächte Ahnungen, die sich in den
Adjektiven, die zum Beispiel den Händler (gedämpft-vertrauliche Stimme)
beschreiben, ausdrücken.
Die Geschichte ist komplett im Ich-Erzählstil gehalten,
lediglich einmal findet sich eine direkte Rede zwischen der Hauptperson und dem
Vetter, die die Handlungsintention und Meinung des Vetters herausheben soll.
Wegen des Erzählstils wird die Hauptfigur nur indirekt, also
durch ihre eigenen Handlungen, charakterisiert. Sie erscheint naiv, gutgläubig
und verspielt. Über ihr Aussehen oder gar ihr Geschlecht wird gar nichts
preisgegeben. Hingegen erscheint der Vetter, der direkt durch die Hauptperson
charakterisiert wird, sehr sachlich, realistisch, fast schon pessimistisch. Der
Händler wird als durchschnittlich beschrieben, mit passenden Adjektiven wird er
aber als interessant dargestellt.
Die Schauplätze sind das Dorfwirtshaus, der erste und letzte
Ort der Erzählung, der ein gewisses Maß an Lockerheit aufweist und das Haus mit
zugehöriger Garage, das eher irrelevant ist.
Die Personen können sowohl für die heutige Zeit, als auch
für die Gesellschaft um 1952 stehen. So ist der Händler der ständige
Konsumdrang, die unausweichliche Werbung und Kaufaufforderung, wobei der Vetter
die „normale“ Gesellschaft ist, die nichts mit übermäßigem Konsum am Hut hat
und diejenigen nicht versteht, die sich der Kauflust hingeben. Die Hauptperson
ist der Inbegriff irrationalen Konsumverhaltens, was sich deutlich in der
Investition in die geklaute Lokomotive zeigt. Vom Autor ist besonders sie ins
Extreme gezogen worden, was diese Satire ausmacht. Als wäre es das normalste
der Welt wird der Kauf der Lokomotive bestätigt, sogar eine noch absurdere
Geschichte wird darüber erzählt. Sie steht in keinerlei kritischer Distanz zum
eigenen Handeln.
Für mich spiegelt diese Geschichte in etwas verzerrter Form
das heutige Konsumverhalten wieder. Ohne viel über etwas zu wissen, wird
eingekauft. Es sei sowieso so offensichtlich, man müsse nicht viel über ein
Produkt wissen, es wird schon das Richtige sein. Etwas erstaunt hat mich, dass
der Autor schon in der Zeit des Verfassens, also 1952, das Gefühl hatte, in
einer extremen Konsumgesellschaft zu leben.
hi
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